◇ Fotografie
Suche nach Abbildern, Bilder halten
Dimensionen finden, Strukturen und Ebenen suchen
Statik des Leben
sehen lernen, besonders bei Wieland Förster
Fotografie ist meine Art zu zeichnen
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◇ Kontakt/Kauf
über Martin Anders
◇ Fotos
Rede zur Eröffnung der Ausstellung "peinture murale" in der Galerie 100
am 1.Juli 2009
Claude Keisch
● Aus der Entfernung betrachtet könnten die Bilder auf diesen Wänden auch für Ölbilder gehalten werden – gegenstandslose, versteht sich. Aber, wir haben es im voraus erfahren, das sind sie nicht, das ausgeprägte, rauhe Relief ist nur Illusion, sie sind flach, immateriell und gewichtlos. Auf einen Gegenstand aber beziehen sie sich sehr wohl, immer den gleichen und niemals denselben, wie es das Gesetz der Serie will – einer Serie, die keinen Abschluß kennt, nur eben abgebrochen werden kann. Hinter den wenigen Dutzend ausgestellten Bildern verbergen sich hundert oder mehr weitere. ● Mit etwas Übung lernt man die Motive entziffern – wenn man will: immer sind es Mauern, Mauerstücke alter, ehemals farbig gefaßter Häuser, je verkommener desto besser. Die Aufnahmen hat Martin Anders von zwei Sommeraufenthalten auf Madeira mitgebracht. In den wenigen Wochen muß er unablässig dem Motivjagd nachgejagt haben und heimgekehrt sein mit einer variantenreichen Überfülle elektronischer Datensätze – federleicht beim Transport, aber beschwert mit den Fragen, die bei der Umsetzung in Papierbilder entstehen und kreative Entscheidungen erfordern: auch das Plotten hält Überraschungen bereit, etwa wenn – wie auf mehreren Bildern zu sehen – ein einfaches Grau unvermutet einen Metallic-Effekt erzeugt.
● Während seines Berufslebens als Arzt hat Martin Anders seine bemerkenswert vielseitigen künstlerischen Antriebe niemals ganz zurückdrängen wollen. Der jahrzehntelange Umgang mit dem zehn Jahre älteren Bildhauer Wieland Förster hat seine Wahrnehmung beeinflußt, grundsätzlich wie im besonderen in der Aufmerksamkeit auf Stein, auf Ruinöses, auf die Analogie zwischen kleinen und großen Strukturen. Dabei ist die Ausbildung im Photographenhandwerk vor dem Studium ist sein besonderer Zugang zum Bildnerischen geblieben, zum Machen, in den letzten Jahren mit gesteigertem Ernst und mit Programm: Der hier gezeigten Serie gingen mehrere andere voraus. Das serielle Vorgehen bedeutet immer: das zufällige Gelingen zurückdrängen, einen Ansatz in vielerlei Verzweigungen erproben.
● Der formalen Perfektion dieser Aufnahmen sieht man die chaotischen Umstände ihres Zustandekommens nicht mehr an: enge, belebte Bürgersteige der südlichen Stadt; der Photograph, womöglich mit Stativ, ein Stolperstein. ● Seinem Motiv begegnet er immer frontal. Um der Erscheinung in der Fläche unterdrückt er die Tiefendimension. Immerhin, je nach dem Lichteinfall entstehen schärfere oder mildere Schatten, wird das Relief etwas entschiedener oder etwas schwächer. Je schwächer, desto abstrakter, könnte man sagen. ● Denn identifizieren lassen sich die Motive nur über die Kleinformen: über ein pilzig wirkendes Krakelee, blasige Oberflächen, Farbabhebungen, kleine Löcher; Flecken, Farbschlieren, Öltränen; Schimmel; ein System von Rissen und Kratzern, Brüchen, Abbrüchen, Absplitterungen; die Spur eines lässig abgestrichenen, mit dicker Farbe beschwerten Pinsels, Einritzungen und dergleichen mehr. ● Und was ist mit den vielen einander überlagernden Anstrichen – Rot unter Braun über Weiß über Ocker, dazwischen Rosa, Blau? Wie erklärt man sich die ganz willkürlich wechselnde, alles verwandelnde Farbenwahl – ein Christopher´s Street Day der Farbe? Umso unsicherer die Chronologie: hier wird sich allenfalls ein Tatort-Pathologe nach langem Bedenken festlegen wollen. ● Darunter: der nackte Zement, rauh und löchrig. Was ist geschehen? Neben dem natürlichen Verfall des Materials bilden die Traumata lauter einander ignorierende Systeme, sie überrollen einander kreuz und quer,ohne mehr zu zerstören, als was gerade im Wege steht. Und ihr immer blinderes Hinweggreifen über ältere wie jüngere Schichten läßt diese noch schwerer voneinander trennen. Jede aber war einmal die oberste und einzige, in triumphierender Makellosigkeit ausgebreitet, und dann – : sic transit gloria mundi.
● Irgendwann meldet sich unser imaginäres Museum zu Wort und erinnert an Felsgebilde bei Max Ernst; auch an Jean Dubuffet, der in seine mit Sand und dergleichen gemischten Ölfarben „primitive“ Figuren einritzte; an das von Brassai in Pissoirs photographierte Graffiti-Gekritzel. Spuren von Bleistiftziffern auf unebenem Putz, verblaßte Schrift lassen uns ahnen, auf welche Wirklichkeits-Erfahrungen sich die Bilder von Cy Twombly gründen. ● Eine große Komposition mit zwei ineinander verzargten, sehr körperhaft wirkenden Feldern mag Bilder des Spaniers Antoní Tapies in Erinnerung rufen. ● Aber hier haben wir es eben nicht, wie bei den genannten Künstlern, mit erdachten, hergestellten Gebilden zu tun, sondern mit wirklich vorgefundenen - die aber wie künstliche aussehen, und die erst die Phantasie des Photographen (und unsere Bereitschaft) in abstrakte Bilder verwandelt. Und wir möchten einerseits ihre ursprüngliche Stofflichkeit erkennen, und im selben Moment möchten wir sie vergessen. Dieses Schillern und Pendeln zwischen zwei Ebenen macht einen Teil ihres Reizes aus: wir lernen auch uns selbst kennen.
● Und können auch nicht unsere assoziierende Phantasie unterdrücken, die in einem Blatt das Bild einer Landkarte mit Flußläufen erblicken möchte; in einem anderen eine Landschaft. Ein schmaler grauer oder graublauer Streifen oben – in der Wirklichkeit eine Türeinfassung, ein Balken oder Ähnliches – will sich vorübergehend in einem Himmel verwandeln, und alles darunter zu einer Landschaft aus der Vogelschau. Die vielfach neu ansetzenden, fraktalen Formen erinner an Küstenlinien, Inseln, Halbinseln auf. ● Dann wieder Vereisung, Anklänge an schmutzigen Schnee in dämmriger Waldlichtung, die aber nichts ist als eine besonders stark zerkratzte Putzfläche. ● Wen die Vorstellung von Krieg angerührt hat, wird immer wieder auf diese Schiene geraten, auch wenn neben ihr andere verlaufen. - Warum nicht, die Gedanken sind frei, die Formen bleiben allem Deuten offen.
● Peinture murale, dieser Titel der Reihe ist doppeldeutig und wohl auch ironisch, denn „Wand-Malerei“, damit bezeichnet man doch wohl Kompositionen von Künstlern, ob Michelangelo oder Diego Rivera, und nicht die Arbeit von Meistern ganz anderer Art, nämlich anonymen Stubenmalern, revidiert und korrigiert durch die Großmeisterin Natur, den geduldigen Fraß der Witterung, den aggressiven Impulsen von Meister Zufall. Sie alle wirken gemeinsam an einem, nun ja, doch, Wand-Bild von unbestimmbarer Ausdehnung, aus dem diese Bilder nur gleichsam Ausschnitte bieten; und auf dieses Wandbild ließe sich der Titel von allegorischen Kompositionen aus der Renaissance übertragen: Triumph der Zeit. Saturn, der seine Kinder verschlingt. Der „Zahn“ der Zeit. Die Zeit enthüllt die Wahrheit. In diesen Bildern gleicht die Zeit einem Archäologen, der sich rabiat von einer jüngsten zu den ältesten Schichten der Vergangenheit vorarbeitet – Troja eins, Troja zwei und so fort.
● Es ist schon des Verwunderns wert, wie ein von der Wirklichkeit angebotener Gegenstand sich zwanglos zu überzeugender graphischer Form fügt. Natürlich: nicht ohne bewußte Lenkung. Denn jedesmal ist er „erwählt“ worden, was einen aktiven, vorbereiteten Blick voraussetzt, einen Blick nicht nur für den Gegenstand selbst, sondern ebenso für seine Umsetzbarkeit. Erwählt und notfalls abgewartet wurde die Lichtsituation, gewählt wurde ein Ausschnitt, zudem beim Plotten noch einmal verengt oder das Motiv um 90 Grad gedreht oder gar auf den Kopf gestellt. Dabei kann eine gewaltige Vergrößerung einen verfremdenden Mikroskop-Effekt erzeugen. Was wie ein kolossaler gemalter Balken aussieht, sind wohl nur gewaltig vergrößerte Buchstaben. ● Noch überraschender als bei den Mauerstücken läßt sich der Verfremdungseffekt in einer Gruppe von Arbeiten beobachten, Arbeiten, die man minimalistisch nennen kann, weil sie nur dünne graue Linien auf weißem Grund zeigen, straffe und minder straffe Kurven, Ellipsen, die halbwegs parallel oder gegeneinander verlaufen und sich kreuzen. Mit der freien Hand wären diese Linien kaum so exakt herzustellen. Mit geschlossenen Augen, ja, vielleicht, aus der nur halbbewußten Dynamik einer Bewegung des ganzen Armes heraus, wie es Hermann Glöckner vor Jahrzehnten erprobt hat. Martin Anders hat photographierend diese Linien im Fluge eingefangen, es sind die Leinen von Fesselballons vor dem Start, in denen die Kraft des Windes sich am Widerstand der Materie mißt. Das Resultat wirkt vergeistigt, zumal der Raum, die Leere sich in pures Licht verwandelt. ● Aber noch einmal: Woher diese Überzeugungskraft des „nur“ Vorgefundenen? Die Antwort steht in dem berühmten Dialog von Heinrich von Kleist „Über das Marionettentheater“. Er setzt voraus: Höchstes Ziel des Tänzers sei die Anmut. Aber, schreibt Kleist, die arionette, ein mechanisches, unbelebtes Gebilde, übertreffe den Meistertänzer grundsätzlich, weil sie unbewußt, ohne Ziererei und daher unfehlbar, dem Gesetz der Schwere folge. Ihr Schwerpunkt selbst sei ihre Seele, in ihm gründe ihre Grazie und Freiheit. Und nur wer in ihrer Nachfolge „entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein“ habe, also der Gliedermann oder der Gott, erreiche den ästhetischen Gipfel. - Auf unseren Gegenstand übertragen: Daß die Kurven der Ballonleinen sich aus einigen wenigen naturgegebenen Formeln herleiten lassen (und ihre Kombinationen dennoch unendlich sind), das macht ihre konkurrenzlose Schönheit aus. Die aber hält die Photographie nicht nur fest, sie hat sie zuvor entdeckt. Das gilt ebenso für die Mauerstücke und für jede nicht inszenierte, aber ästhetisch orientierte Photographie. ● Und auch diese Perspektive bleibt nicht ohne Trauer: Ein Versuch ein Jahr darauf, die Serie fortzusetzen, scheiterte, der Startplatz war nicht mehr in Betrieb. Und wie viele der Häuser werden inzwischen renoviert sein? Wie jeder weiß, erreicht uns jetzt erst das Licht längst erloschener Sterne, und streng genommen ist unser ganzes Präsens, kaum daß es erlebt ist, schon Vergangenheit – und doppelt vergangen, wenn wir heute in den „peintures murales“ den Spuren von seinerzeit schon Zerstörtem begegnen. Und so beobachten wir den Verfall einer Schicht um die andere, folgen der Schichtung des durch Zufallswirkung Zerfallenen, imaginieren die Geschichte verfallenden Geschichts; und bleiben nachdenklich zurück …
© Dr. Claude Keisch